HAVEN – where helping tastes good

„Ich weiß wo wir heute Abend hingehen!“ Herr S. liegt auf dem Bett und hebt müde eine Augenbraue. Der Tag war lang und heiß, die Anstrengung der vielen Treppenstufen in den Tempelanlagen von Angkor steckt uns in den Knochen. Ich habe vor allem eines: Hunger! „Komm, mach dich fertig, ich verhungere!“ Das Tuktuk braust durch die Nacht, der warme Wind weht durch meine Haare, ich freue mich schon unbändig auf die vegetarische Version des kambodschanischen Nationalgerichts, dem Amok. Doch mit dem Satz „Tut mir leid, wir haben alle Tische besetzt!“ wird meinem hungrigen Magen, meiner großen Vorfreude, ein Dämpfer versetzt. Ich stehe mitten in Siem Reap vor den nun verschlossenen Toren des HAVEN. Ich blicke in das freundlich eingerichtete Lokal in dem zufriedene Gäste sich prächtig zu unterhalten scheinen. Immer wieder werden verführerisch aussehende Teller mit farbenfrohen Gerichten serviert. Ich bin neidisch. Natürlich könnten wir auch in ein anderes Restaurant, die blinkende Pub Street ist nur wenige Meter vom Eingang des Restaurants entfernt, aber nein! Es muss ein Tisch im HAVEN sein, denn hier, das verrät der Blick auf die Website, handelt es sich um ein besonderes Restaurant, einem Trainingsrestaurant, in dem jungen KambodschanerInnen ein Zuhause, eine Ausbildung und eine Zukunft gegeben wird.

Ein gastronomisches Hilfsprojekt? Das macht mich neugierig, denn die Armut in Kambodscha ist auch in der Touristenhochburg Siem Reap greifbar. Der Glanz von Angkor lässt nicht jede gesellschaftliche Schicht zu Gewinnern werden. Gerade Kinder gehören zu den Verlierern und wachsen in Kambodschas Waisenhäusern auf, auch wenn sie keine Waisen sind. Von den geschätzt 12.000 Kindern, die in kambodschanischen Waisenhäusern leben, sind laut Unicef nur etwa 23 % Waisen. Doch nicht nur die Annahme, dass es den Kindern dort besser gehe als im familiären Verbund, sondern auch die finanzielle Erleichterung der armen Familien können Gründe für diesen Zustand sein. Die Kinder verlieren so den Kontakt zu ihren Kommunen, verlieren ihr Urvertrauen und werden ihrer kulturellen Identität beraubt. Im Teenageralter aus den Waisenhäusern entlassen, ist die Zukunft dieser jungen Menschen ungewiss. Mit ihrem Trainingsrestaurant HAVEN möchte das Team rund um die Gründer Sara und Paul Wallimann genau diesen benachteiligten und gefährdeten jungen Erwachsenen, die die Waisenhäusern verlassen müssen, einen Zufluchtsort bieten und ihnen mit einer Ausbildung zum Koch/zur Köchin oder im Service, Sicherheit und medizinischer Versorgung den Start in eine hoffnungsvolle und unabhängige Zukunft ermöglichen.

HAVEN Classroom

Jetzt möchte ich noch mehr wissen. Die wenigen Tage in Kambodscha haben mir das Land und seine Menschen ans Herz wachsen lassen und das HAVEN fasziniert mich. Ich frage Sara Wallimann also Löcher in den Bauch:

[Julia] In einem Interview mit Euch habe ich gehört, dass es nie Euer Traum war, ein Restaurant zu eröffnen. Warum habt Ihr Euch dann entschieden, in Kambodscha das HAVEN als Trainings-Restaurant zu eröffnen? Wäre nicht zum Beispiel auch eine Trainings-Schreinerei denkbar gewesen?

[Sara] Ja, das stimmt. Sowohl Selbständigkeit, wie auch Gastronomie waren noch nie ein Traum von uns beiden. Und trotzdem machen wir heute genau das. Aber das liegt daran, dass es uns mit HAVEN nie um uns selber ging, sondern von Anfang an und immer um die benachteiligten Jugendlichen, denen wir helfen wollen.
Warum wir uns also für ein Restaurant entschieden, um diesen jungen Erwachsenen zu helfen, hat folgende drei Gründe:

  1. Know-how
    Uns war es wichtige, in einem Bereich Ausbildungen anzubieten, in dem wir auch über ein gewisses Know-how verfügen. Auch wenn wir beide nicht kochen können und drum von Anfang an klar war, dass wir für den Part einen professionellen und leidenschaftlichen Küchenchef finden müssen, so bringen wir doch auch unser eigenes Wissen mit rein. Paul als Lebensmittel Ingenieur, der über 10 Jahre lang Consultant war für Restaurants und Hotels in der Schweiz, im Bereich Lebensmittelhygiene und Microbiologie und dort die Küchen kontrolliert und die Angestellten geschult hat. Nebenbei war er auch noch Gast-Dozent für Lebensmittelhygiene an der Hotelfachschule Belvoir in Zürich. Ich, Sara, war Head of Marketing von tibits, der vegetarischen Restaurant Kette in der Schweiz (und inzwischen auch in London). Da habe ich im ganzen F&B Bereich und auch bei den einzelnen Restaurant-Betrieben sehr viel gesehen, erlebt und gelernt, was ich hier einsetzen kann.
  2. Arbeitsmarkt / Arbeitsstellen
    Ebenso wichtig war es uns, sinnvolle Lehrstellen zu kreieren, bei denen die jungen Erwachsenen eine Ausbildung erhalten, mit der sich nachher auch wirklich gute Jobs finden können. Ganz am Anfang hatten wir schon auch kurz darüber gesprochen, was es sonst noch für Bereiche gäbe (z.B. Schreiner, Schneider, Mechaniker,…), die in Frage kommen könnten. Aber kein Sektor war langfristig gesehen wirklich sinnvoll und attraktiv. Die Lehrabgänger würden danach keine Stellen finden in dem Bereich oder zumindest keine fair bezahlten (wie z.B. all die Schneiderinnen, die als sehr schlecht bezahlte Garment Workers enden für die westliche Fashion Industrie).
    Der Tourismus ist der grösste (und wohl auch fast einzige) Sektor, der ein regelmässiges Einkommen in Siem Reap generiert. Restaurants, Hotels, Guesthouses, … das Angebot steigt monatlich, neue Arbeitsstellen werden geschaffen, gutes Personal wird dringend gesucht. Und genau da kommen wir ins Spiel. Wir bilden die jungen Menschen so aus, dass sie nach einer Lehre bei uns, bei den guten Adressen anklopfen können und auch empfangen werden. Denn nur das ist schlussendlich echte Hilfe zur Selbsthilfe. Wenn sie das was sie gelernt haben auch einsetzen können, gut und fair dafür bezahlt werden und damit selber für sich und ihre zukünftige Familien sorgen können.
  3. Tourismus
    Unser Konzept beinhaltete von Anfang an, dass wir mit unserem Ausbildungs-Projekt für diese Jugendliche selbsttragend werden wollen. Und mit den jährlich steigenden Zahlen der Touristen (die ja eben auch dafür sorgen, dass wir für unsere Abgänger gute Jobs finden können) war uns recht schnell klar, dass wir in den Hospitality Bereich müssen, um selbsttragend werden zu können.

Welchen Herausforderungen musstet Ihr Euch zu Beginn des HAVEN stellen?

Allen. Wirklich. Alleine der Bau von HAVEN war eine Herausforderung, die auch noch durch eine 6-wöchige Flut erschwert wurde. Dann die Eröffnung, die Arbeitsabläufe anpassen und optimieren, die kulturellen Unterschiede zu den Khmer, die kulturellen Unterschiede zu den Touristen die aus aller Welt kommen, unser Perfektionismus… Und es vergeht auch jetzt, vier Jahre später, keine Woche, an der wir nicht wieder mit einer neuen Herausforderung konfrontiert sind. Es sind nicht immer nur grosse oder schwerwiegende Sachen, aber doch immer wieder etwas. Langweilig wird es auf jeden Fall nie.

Ich habe über die kambodschanische Küche gelesen, sie sei der vietnamesischen und thailändischen Küche sehr ähnlich, nur schlechter. Was haltet Ihr von dieser Aussage?

Die kambodschanische Küche hat noch viel mehr Einflüsse, als “nur” die der Nachbarn. Nebst Thailand, Vietnam und Laos, finden sich auch kulinarische Spuren aus China, Indien und Frankreich. Alles Einflüsse die die Khmer zu einer eigenen Variante verändert haben, die vielleicht einfacher ist (was auch ihrem einfacheren Lebensstil entspricht), aber sicher nicht schlechter.
Drum: Der Teil der Aussage, dass die Küche ähnlich ist, stimmt also grundsätzlich schon. Aber wir widersprechen dem Teil, dass sie schlechter ist. Die kambodschanischen Gerichte sind vielleicht nicht so komplex und glamourös (und spicy) wie die der Nachbarn, aber sie sind frisch, kreativ und ehrlich. Und sie werden unserer Meinung nach stark unterschätzt. Denn die Perfektion der Khmer liegt schlussendlich darin, die Gerichte für eine Mahlzeit so aufeinander abzustimmen, dass sich die kontrastreichen Geschmäcker (salzig, süss, sauer und bitter) gegenseitig geschickt bereichern und als Komposition immer wieder ein kulinarisches Erlebnis bereiten.

Ein nachhaltiges Helfen und ein dauerhaftes Verbessern der Lebensbedingungen Eurer Team-Mitglieder ist Teil Eures Konzepts. Wie hoch ist der Stellenwert von nachhaltig produzierten Lebensmitteln in der HAVEN-Küche?

Unser ganzes Fundament basiert auf Nachhaltigkeit. Darum sind wir überhaupt hier. Dabei ist die Verbesserung der Lebensbedingungen unserer Lehrlinge, aber auch die unserer Festangestellten, ein elementarer Bestandteil.
Aber wir denken noch viel weiter als das. Genauso viel Wert legen wir auf unsere Lebensmittel und auf unseren Einfluss auf die Umwelt. Bei den Lebensmitteln arbeiten wir wo nur möglich mit lokalen Bauern zusammen. Wir legen grossen Wert auf Bio (Gemüse und Früchte) und auf Non-GMO (Tofu). Unsere Eier bekommen wir von glücklichen Freiland Hühnern und unser Reis von Bauern, in dessen Gegend der von aussterben bedrohte Ibis wieder sesshaft wird, weil die Bauern keine Pestizide verwenden und auf die Tierwelt acht geben.
Wir machen im HAVEN regelmässige Schulungen für die ganze HAVEN Familie, bei denen wir alle über die Umwelt informieren und schulen. Wasser, Energie, Abfallentsorgung & Recycling, etc. Unser eigener Beitrag dazu ist, dass wir seit über einem Jahr den Verbrauch von Plastik Strohhalmen um 90% reduziert hatten (sie wurden nur noch mit der Fresh Coconut serviert oder auf Verlangen von einem Gast) und seit Ende Juni haben wir die Strohhalme komplett mit Bamboo Rohre ersetzt. Auch unsere Take Away Boxen sind 100% biologisch abbaubar. Und unsere Laundry Bags, wie auch all unsere Einkaufstaschen (für den täglichen Einkauf am Markt) sind Stofftaschen (anstelle von den üblichen Plastiksäcken).
Am 1. Juli haben wir auch noch den Plastic Free July Challenge gestartet mit der HAVEN Familie, damit sie auch in ihrer Freizeit mit der Abfall Problematik konfrontiert sind. Dafür hat jeder einen Goodie Bag von uns bekommen (mit Baumwolle Einkaufstasche, Lunchbox und Trinkflasche und einem Bambus Strohhalm), um in diesem Monat auch privat so wenig Einweg-Plastik wie möglich zu verwenden.

Auf Eurer Karte finden sich nicht nur kambodschanische Gerichte, sondern auch Schweizer Rezeptklassiker wie Zürcher Geschnetzeltes. Was bestellen Eure Gäste öfter? Die wunderbaren Khmer-Gerichte oder die Schweizer Köstlichkeiten?

Die Bestellungen sind eigentlich sehr ausgeglichen. Die Khmer/Asiatischen Gerichte möchten natürlich alle probieren – egal von wo auf der Welt sie kommen. Aber wir haben auch sehr viele Gäste, welche sich auf die Europäischen Gerichte freuen – darunter sind Westliche Gäste, die sich nach etwas Heimischen sehnen, aber auch sehr viele Asiaten (z.B. aus China oder Malaysia), welche die europäische Küche kosten wollen. Es hat auf jeden Fall für alle was leckeres. Und unsere Trainees lernen dabei die verschiedenen Küchen und dessen Zubereitung.

HAVEN Kuechenchef und Lehrling

Der Abend schreitet voran und wir werden noch zweimal abgewiesen bis wir endlich an einem Tisch Platz nehmen dürfen, herrlich frische Frühlingsrollen essen, ein kühles Lemon Soda trinken und zum Abschluss des Tages das wunderbare und aromatische Amok genießen. Unser viel zu kurzer Aufenthalt in Kambodscha geht zu Ende. Wehmütig blicken wir auf dieses Land, das einst das einflussreichste Königreich Südostasiens war und heute, nach langem Bürgerkrieg und Schreckensherrschaft der Roten Khmer, zu einem der ärmsten Ländern der Welt gehört.

Wenn Ihr mehr über das HAVEN erfahren möchtet, besucht auch den Dragonfly Förderverein. Und wenn ihr in Siem Reap seid, tut euch etwas Gutes, reserviert einen Tisch und lasst euch einen Abend lang im Haven verwöhnen – sei es bei einem Teller Zürcher Geschnetzeltem oder bei einer Schüssel Amok. Denn sicher ist: Helping tastes good!

Liebe Sara, vielen Dank, dass Du die Zeit gefunden hast, meine Fragen zu beantworten. Und vielen Dank auch, dass ich die Bilder von Eurer Website verwenden darf. Ich wünsche Euch das beste und hoffe bald wieder nach Kambodscha reisen zu können.

  1. Was für ein spannendes Projekt liebe Julia! Wie schön, dass es solche Ausbildungsprogramme gibt und wenn ich mir dazu die Umstände in Kambodscha anschaue, von denen Du in der Einleitung schreibst, sind sie dort erst recht von Nöten.
    Das Restaurant klingt auch ganz fein: Ferne frische Aromen sind doch das, wovon ich im Sommer immer ganz besonders träume. Vielleicht schaffen wir es ja irgendwann nach Kambodscha. Ein Reiseziel hätten wir ja jetzt schon einmal ;-)
    Ganz liebe Grüße,
    Ylva

    • Liebe Ylva, ich freu mich, dass Dir sowohl das Projekt als auch das Restaurant gefallen! Ich habe mich ehrlich gesagt Hals über Kopf in Kambodscha verliebt – ein charmantes, chaotisches, ruhiges, lautes Land, mit so einer Freundlichkeit, das man fast dazu neigt die großen Probleme und das Unrecht ausblenden zu wollen. Wirklich faszinierend und dabei auch so schrecklich. Und Angkor erst! Solltest Du irgendwann hitzeresistent werden, liebe Ylva, dann ab in den Flieger mit Dir ;)
      Liebe Grüße <3
      Julia

  2. […] verschiedenen Ländern erreichen. Nach der glänzenden Zeit in Hongkong, viel zu wenigen Tagen in Kambodscha und einer erholsamen und ausgedehnten Verschnaufpause in Zentralvietnam also wieder eine Stadt, […]

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